top of page

Der Mann mit den zwei Krügen – oder: Warum dein Riss ein Geschenk ist


Spaziergang mit Freundin
Spaziergang mit meiner Freundin

Neulich war ich mit meiner langjährigen Freundin aus Spanien spazieren. Wir kennen uns schon viele Jahre, haben gemeinsam gelacht, geweint und unzählige Lebensphasen geteilt.


An diesem Tag war sie frustriert. „Ich spreche immer noch nicht perfekt Deutsch“, sagte sie. „Nach all den Jahren!“ Sie machte sich selbst fertig. Weil sie glaubt, es müsste perfekt sein – was auch immer das heissen soll.


Ich hörte ihr zu. Und dann fiel mir eine Geschichte ein, die ich vor langer Zeit gelesen hatte. Als ich sie zum ersten Mal hörte, hatte ich Tränen in den Augen – vor Rührung, vor Wahrheit, vor Schönheit.


Es ist die Geschichte vom Wasserträger, der jeden Tag zwei Krüge an einer Stange über seiner Schulter trug. Einer der Krüge hatte einen Riss – und während der andere Krug nach dem langen Weg zum Haus des Meisters stets randvoll blieb, war der rissige Krug immer nur halbvoll. Der Krug schämte sich für seine Unvollkommenheit.


Eines Tages, nach Jahren, sprach er den Wasserträger an. „Es tut mir leid. Ich bin kaputt. Ich schaffe nur die Hälfte von dem, was der andere Krug kann. Willst du mich denn nicht austauschen?“

Der Wasserträger lächelte: „Ist dir aufgefallen, dass auf deiner Seite des Weges wunderschöne Blumen wachsen – aber nicht auf der anderen? Ich habe auf deiner Seite Samen gesät, weil ich wusste, dass du ein Leck hast. Jeden Tag hast du sie bewässert. Und jeden Tag bringe ich meinem Meister frische Blumen.“


Als ich diese Geschichte meiner Freundin erzählte, war sie plötzlich ganz still. Und dann – wie damals bei mir – füllten sich ihre Augen mit Tränen.


Tonkrug
Tonkrug

Wir vergessen so oft, dass unsere Risse, unsere vermeintlichen Schwächen, in Wahrheit unsere Geschenke sind. Sie machen uns menschlich. Sie machen uns liebenswert. Und sie berühren andere – viel tiefer als makellose Perfektion es je könnte. Meine Freundin mit ihrem spanischen Temperament, ihrem charmanten Akzent und den kleinen sprachlichen Stolperern? Sie bringt Freude. Sie bringt cariño. Sie bringt Leben.


Und ich frage mich:

Was wäre, wenn wir aufhören würden, unsere Risse zu verstecken? Was wäre, wenn wir anfangen würden, die Blumen zu sehen, die nur dank unserer Risse wachsen?

Comentarios


bottom of page